„Diese zwanghaften Autisten“

Ich habe aufgehört zu zählen. Aufgehört zu widersprechen und jedem einzeln zu erklären wieso, weshalb, warum.

Ständig begegnen mir sogenannte „Experten“, mit der festen Überzeugung, autistische Menschen seien zwanghaft, in ihrer Welt gefangen, inselbegabt oder auf irgend eine Weise ja doch zurückgeblieben. Und nicht zu vergessen, dass viele immernoch der Meinung sind, Autismus sei eine Krankheit, eine Störung und müsse geheilt bzw. geändert werden. Solche Aussagen sind verletzend, pauschal und einfach falsch. Und so ganz nebenbei: Aus autistischen Kindern werden autistische Erwachsene, die sogar in Hochschulvorlesungen zu Themen wie Autismus sitzen können und besser Bescheid wissen, als die Dozenten selbst, da sie Experten in eigener Sache sind. Leider bin ich in Vorlesungen meist so sprachlos, dass es mir nur selten gelingt solchen Aussagen zu widersprechen. Bis ich Sätze formuliert habe, die genau das ausdrücken was ich sagen möchte, ist es zu spät und ich sitze da, angespannt, frustriert und wütend, dass solche Ansichten immernoch in Bildungseinrichtungen für Pädagogen verbreitet werden.

Ich kann und möchte nicht für alle autistischen Menschen sprechen, es gibt auch hier sicherlich Unterschiede. Das Spektrum ist groß und die Menschen sehr vielfältig. Nicht alle haben die gleichen Probleme und nur selten wird die Innensicht des Individuums berücksichtigt. Doch lassen sich im Austausch immer wieder Gemeinsamkeiten feststellen.

Zwänge und Stimming werden oft verwechselt

Was für Außenstehende oftmals wie ein Zwang oder möglicherweise schon krankhafte Besessenheit aussieht, ist für den autistischen Menschen stressreduzierend, überlebensnotwendig und in den meisten Fällen nicht schädlich. Für niemanden. Versprochen.

Natürlich gibt es Ausnahmen. Ein Verbot bzw. eine Unterdrückung dieses Verhaltens durch Training und Konditionierung ist jedoch keine Lösung und lässt den inneren Druck nur noch größer werden! Sogenannte “Stereotypien”, wie es in Fachkreisen heißt, also Routinen, Wiederholungen, Interessen und gewohnte Strukturen und Handlungen, sind nicht grundsätzlich zwanghaft, sondern geben uns die nötige Struktur und Sicherheit im Alltag und helfen, mit den ganzen Eindrücken dieser hektischen und lauten Welt zurecht zu kommen.

„Aber das ist doch nicht gesund, man muss sie aus ihrer Welt herausholen!“. Erschreckend, aber diese Aussage musste ich mir schon so oft anhören. Leider auch von Personen, die mit autistischen Kindern arbeiten.

Nein! Man muss uns nicht da “heraus holen”. Es kann passieren, dass wir die Welt um uns herum komplett ausblenden, sei es als Resultat einer völligen Reizüberflutung, oder weil wir uns auf unser Interesse fokusieren. Wir leben trotzdem in einer gemeinsamen Welt. Was uns unterscheidet, sind unsere Wahrnehmungen, unsere Erfahrungen, unsere Art wie wir Dinge verstehen , wie wir mit ihnen zurecht kommen und unsere “Sprachen”.

Wir haben sehr gute Gründe, warum wir uns mit einer Sache beschäftigen und das vielleicht mehrere Wochen, Monate oder Jahre lang. Warum manche von uns stundenlang Dinge beobachten oder mit Gegenständen herumspielen können. Warum wir bestimmte Bewegungen und Abläufe immer und immer wieder durchführen. Es sind meist einfache Gründe. Wir beruhigen uns damit, es gibt uns Sicherheit, schafft Ordnung und im besten Fall macht es auch noch tierisch viel Spaß. Man nennt das “Stimming” oder selbst-stimulierendes Verhalten. Das machen nichtautistische Menschen übrigens auch. Schonmal mit dem Kugelschreiber geklickert? Oder mit den Beinen gewippt? Pfeifen und Rhythmen klopfen gehören auch dazu, um nur ein paar zu nennen. Das beruhigt, oder? Und es schadet auch keinem, stimmt’s?

In einer Welt, in der alle ständig rennen und schnellstmöglich an ihr Ziel gelangen möchten, verpassen sie die kleinen schönen Dinge. Die faszinierenden Details dieser Welt. Wenn mich die Eindrücke aus der Umgebung, oder meine eigenen Gedanken und Gefühle überwältigen, wenn der Druck so groß wird, dass ich denke, innerlich zu zerreißen, hilft dieses Stimming einen totalen Zusammenbruch zu vermeiden. Ich erzeuge etwas Eigenes, um das überwältigende Fremde auszuschließen. Es baut überschüssige Energie ab und portioniert die Reize in kontrollierbare, überschaubare Häppchen.

Ich möchte nicht behaupten, dass Autisten keine Zwänge haben. Das haben einige bestimmt. Und wenn sie sich davon eingeschränkt fühlen, sollte nach Lösungen gesucht werden. Keine Frage. Ich habe auch Zwänge, aber die fühlen sich im Gegensatz zum Stimming nicht gut an und stören mich im Alltag. Es gibt weniger einschränkende Zwänge, wie die Regel, niemals auf Gullideckel treten zu dürfen oder das ständige Bedürfnis sämtliche Kanten und Ecken symmetrisch anzuordnen und es gibt einschränkendere wie manche meiner komplexen Zwangsgedanken. Man kann es sich wie ein inneres Körperjucken vorstellen, an das man nicht herankommt um zu kratzen. Es ist sehr unangenehm und hört nur auf, wenn das Bedürfnis gestillt ist. Das bedeutet aber nicht, dass so etwas für jeden einen Zwang darstellt.

Stimming ist völlig okay. Es ist hilfreich und solange es keinem ernsthaft schadet, sollte man es einfach akzeptieren und sein lassen. Auch in der Öffentlichkeit. Eine zappelnde, schaukelnde oder summende Person schadet niemandem. Nur weil etwas für Nichtautisten keinen Sinn zu haben scheint, oder zwanghaft aussieht, ist es nicht falsch. Jedes Verhalten hat bestimmte Gründe und wenn man aufmerksam ist und hinterfragt, kann man uns und unsere Sprache vielleicht ein bisschen besser verstehen.

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4 Gedanken zu „„Diese zwanghaften Autisten““

  1. Supertoll erklärt! Und Du hast Recht – in irgendeiner Form gibt es bei jedem von uns dieses „Stimming“. Und auch Routinen, die manch Einer als zwanghaft empfinden würde, hat doch fast jeder Mensch, nur merken das nicht autistische Menschen vielleicht nicht, weil es einfach andere Routinen sind. Dein Bericht hat auch mir, als depressivem Menschen, verdeutlicht, dass es keine Unflexibilität meinerseits ist, wenn ich mich an meine Abläufe so klammere, sondern eine wichtige Überlebensstrategie. Danke für Deinen tollen Beitrag!

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